Utopische Elemente deutschsprachiger Reiseerzählungen des 14. und 15. Jahrhunderts
Unterprojekt von Dr. Tilo Renz
Das Forschungsprojekt untersucht utopische Elemente deutschsprachiger Erzählungen über Reisen in die Ferne, die in den zwei Jahrhunderten vor der Zeit der so genannten klassischen Utopien entstanden sind. Im Anschluss an die Utopie-Forschung der germanistischen Mediävistik zielt das Projekt auf Korrektur und Differenzierung der verbreiteten Annahme, dass Utopien als Entwürfe idealisierter Gemeinschaften, die im Diesseits situiert werden, neuzeitliche Erscheinungen sind und dass diese aufgrund umfassender gesellschaftlicher und epistemischer Veränderungen mit den Vorstellungen des Mittelalters wenig gemeinsam haben. Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein historisch spezifisches Utopie-Verständnis, das sich an den frühneuzeitlichen Utopien orientiert (Morus’ Utopia, Andreaes Christianopolis, Campanellas Civitas solis, Bacons Nova Atlantis). Als Utopien gelten danach im Rahmen der Erzählung von einer Reise in die Ferne entworfene soziale Einheiten, die gegenüber der intradiegetisch vertrauten Welt grundlegend anders geordnet sind und die in Gänze oder in Teilen idealisiert dargestellt werden. Im Zuge der Analysen wird überprüft, ob mit diesem Utopie-Begriff, für den die Merkmale einer Gemeinschaft von zentraler Bedeutung sind, auch utopische Entwürfe der vorausgehenden Jahrhunderte erfasst werden können. Um deren Spezifika in den Blick zu bekommen, ist es geboten, ein Utopie-Verständnis, das an frühneuzeitlichen Utopien entwickelt wurde, nach Maßgabe der mittelalterlichen Phänomene zu erweitern.
Die Untersuchung konzentriert sich zunächst auf Erzählungen des 14. und 15. Jahrhunderts von Reisen, die in den östlichen Großraum jenseits des Heiligen Landes führen, welcher im Mittelalter Indien genannt wird. Dazu gehören Berichte von Reisenden oder von Figuren, die vorgeben, vor Ort gewesen zu sein (etwa die deutschsprachigen Fassungen der Berichte von Marco Polo, Odorico da Pordenone und Jean de Mandeville). Für eine weitere Arbeitsphase am Projekt ist geplant, Texte hinzuzuziehen, die ebenfalls durch das Narrativ der Reise in den Osten strukturiert sind, aber stärker literarisiert erscheinen als Reiseberichte (etwa der Reinfried von Braunschweig, Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland und der Alexanderroman in der Fassung Johann Hartliebs).
Berichte über Fernreisen sind für die Untersuchung des epistemischen Status mittelalterlicher utopischer Reiche von besonderem Interesse, denn sie präsentieren ihre Inhalte als gesicherte Informationen. Dazu verknüpfen sie unterschiedliche Formen tradierten Wissens, Berichte angeblich verlässlicher Zeugen und Selbst-Gesehenes in je eigener Weise mit einander. Zudem bedienen sie sich literarischer Darstellungsformen (insbes. Mandeville), indem sie vorgefundenes Material erweitern (etwa durch descriptiones), es auserzählen und besonders disponieren oder indem sie es aus der Perspektive eines reisenden Ich darstellen und dabei die Dimension sinnlicher Erfahrung einbeziehen. Im Rahmen der Projektarbeit wird untersucht, ob und auf welche Weise diese unterschiedlichen Elemente der Darstellung dazu führen, auch dem Wissen über utopische Gemeinschaften Geltung zu verleihen und sie als materiell konkrete Orte hervorzubringen.
Die Analyse utopischer Elemente mittelalterlicher Reiseerzählungen ist in mehrfacher Weise mit der Erforschung des Wunderbaren verschränkt. Neben den bereits angesprochenen Schilderungen sinnlicher Erfahrungen, die auch für Elemente des Wunderbaren charakteristisch sind, teilen beide Phänomenbereiche die Attribuierung als wunder. Sowohl die den Gemeinschaften eigenen topischen Phänomene des Wunderbaren als auch ihre soziale Organisation selbst lassen sie als staunenswert erscheinen. Das Unterprojekt zu mittelalterlichen Formen des Utopischen erweitert die Erforschung des Wunderbaren im Rahmen des Teilprojekts damit um eine weit gefasste diachrone Perspektive auf fremdartige Gemeinschaften und soziale Ordnungen.