Spielen als Praxis der Risikobeherrschung im 13. Jahrhundert
Unterprojekt von Michael A. Conrad
Vielfach wird Risiko als ein dezidiert moderner Begriff ausgewiesen. Neuere historische Forschungen zeigen jedoch, dass nicht nur der Begriff schon ab dem 12. Jahrhundert im Kontext des mittelalterlichen Seehandels in Erscheinung tritt, sondern dass für diese Zeit bereits von der Herausbildung eines Risikobewusstseins gesprochen werden darf. An diese Erkenntnisse anknüpfend, untersucht das Unterprojekt, inwiefern Spielen im 13. Jahrhundert als eine sicherheitsstiftende Praxis zur Risikobewältigung aufgefasst wurde, obwohl es, einer spätantiken Tradition folgend, im Mittelalter immer wieder als teuflische, Chaos erzeugende Beschäftigung gebrandmarkt wurde.
Vor diesem Hintergrund wird die kulturhistorische Bedeutung des Libro de los juegos, der Hauptquelle des Unterprojekts, besonders augenfällig. Im Auftrag König Alfons' X. von Kastilien und León aus verschiedenen, unter anderem arabischen, Vorlagen kompiliert und im Jahre 1284 fertiggestellt, stellt das Buch eine Art ‚Summe‘ spielbezogenen Wissens dar: Auf 100 Folios werden in Texten und Illuminationen exakt 144 Schachprobleme sowie Brett- und Würfelspiele in systematischer Weise vorgestellt. Im Unterprojekt werden die unterschiedlichen Darstellungsmodi von Spielpraktiken im Manuskript daraufhin untersucht, inwiefern deren spezifische Medialität und Materialität Kontingenzerfahrungen generieren, durch die Kontingenz – in Gestalt von Risiken – als ein durch menschliches Handeln kontrollierbares Phänomen erscheint.
Im Hinblick auf diesen Zusammenhang ist auffällig, dass die Entstehung des Alfonsinischen Spielebuchs in die Zeit der Hochscholastik mit ihren regen Kontingenzdebatten fällt. Deren Bedeutung für das im Werk sich niederschlagende wissenschaftliche Interesse an Dynamiken spielerischer Praktiken wurde noch nicht ausreichend erforscht. Jedoch ist zu vermuten, dass gerade die dominikanische Interpretation der aristotelischen Naturphilosophie und Handlungstheorie einen entscheidenden Einfluss auf das Projekt Alfons' X. hatte, wurde in deren Zuge doch auch das Verhältnis von menschlicher Willensfreiheit und göttlicher Providenz neu verhandelt. Über eine rein geisteshistorische Perspektivierung hinausgehend, sollen jedoch außerdem soziale, ökonomische und politische Motive identifiziert werden, die der besonderen zeitgeschichtlichen Situation Kastilien-Leóns im späten 13. Jahrhundert geschuldet sind.
Von einer philologischen, sich eng an der sprachlichen Struktur der Quellentexte orientierenden Methode ausgehend, wird diese durch Mittel einer kulturhistorischen Komparatistik erweitert. Dadurch ermöglicht wird eine themengeleitete Erschließung von Quellenmaterialien unterschiedlicher Genres sowie medialer und kultureller Provenienzen. Erst diese methodische Anreicherung erlaubt den Zugriff auf ein umfassenderes Verständnis der Relevanz theatraler und performativer Ästhetiken für die Konzeptualisierung von Risiken und deren Bewältigung. Der Quellenkorpus umfasst dabei, von dem bereits erwähnten Spielebuch Alfons' X. abgesehen, weitere Schriften aus seinem unmittelbaren Wirkungsumfeld, vor allem die astronomisch-astrologischen Bücher (Los libros del saber de astronomía), aber auch Gesetzessammlungen (Las siete partidas, Ordenamiento de las tafuerías). Als Vergleichsobjekte hinzugezogen werden darüber hinaus zeitgenössische Spieltraktate, philosophische und theologische Abhandlungen, legale Dokumente zum Zwecke der Regulierung von Spielkultur sowie Bildmaterialien anderer Herkunft.