Expérience(s). Zum Rekurs auf Erfahrung und Erfahrungswissen im Frankreich der Frühen Neuzeit
Tagung des Sonderforschungsbereichs 980 "Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit" konzipiert und organisiert von Isabelle Fellner (A07) und Dr. Christina Schaefer (B05)
Die Berufung auf Erfahrung bzw. Erfahrungswissen (lat. experientia, frz. expérience, engl. experience) hat in Philosophie, Wissenschaft, aber auch Literatur eine lange Tradition (Veneziani 2002; Esposito/Porro 2004). Schon bei Aristoteles zeigen sich dabei zwei Aspekte von Erfahrung: zum einen Erfahrung im Sinne eines alltagspraktischen Wissens, eines knowing how, das nicht aus Büchern, sondern in der Praxis des täglichen Lebens und Tuns erworben wird und eng mit jener Handlungsklugheit (phronesis, lat. prudentia) verbunden ist, die laut Aristoteles einen guten Arzt ebenso auszeichnet wie einen guten Staatsmann, Heerführer oder Haushälter. Zum anderen verhandelt Aristoteles die (Sinnes-)Erfahrung (empeiria) aber auch als genuine Basis der Wissenschaften (s. Analytica posteriora II,19).
Durch das gesamte Mittelalter hindurch verbanden sich mit dem Begriff experientia (bzw. experimentum) beide Aspekte. Erst in der Frühen Neuzeit scheint die Kategorie der Erfahrung dann an einen Scheideweg zu gelangen, wenn sich im Zuge eines aufstrebenden Beobachtungswissens (observatio) ein Konzept von empirischem Wissen herausbildet, das sich zunehmend von alltäglicher, lebenspraktischer Erfahrung abgrenzt und, im Kontext der sich herausbildenden Naturwissenschaften, eine eigene begriffsgeschichtliche Karriere ansteuert (Pomata 2011). Die handlungslogisch fundierte experientia (bzw. expérience) verlor damit aber keineswegs an Bedeutung, im Gegenteil, hatte sie doch ihrerseits im Humanismus in der Nachfolge Petrarcas eine deutliche Aufwertung erfahren und wirkte in diesem Sinne, nicht zuletzt in den Ethiken von gentiluomo und honnête homme, bis weit ins 17. Jahrhundert und darüber hinaus fort. In der gesamten Tradition seit der Antike zeigt sich im Übrigen die Vorstellung, dass experientia keineswegs nur im eigenen Erleben, sondern auch durch Erfahrungen anderer, ja sogar durch die Lektüre kanonischer Texte und auctores (z.B. in Form von Exempla und Anekdoten) erworben werden kann. Vor diesem Hintergrund ist das seit der Antike mit dem Lob der Erfahrung verbundene Lob des praktischen Wissens, das sich polemisch abgrenzt vom ‚bloßen Bücherwissen‘, seinerseits als Topos (im Sinne einer rekurrenten literarischen Figur) zu erkennen und kritisch zu reflektieren.
Während die jüngere Wissenschaftsgeschichte vornehmlich den für die Ausbildung der modernen Wissenschaften so zentralen zweiten, mit Beobachtungswissen assoziierten Begriff fokussiert hat (Dear 2006, Daston/Lunbeck 2011), hat die Frage, was nach der begrifflichen Ausdifferenzierung aus experientia im Sinne eines lebenspraktischen knowing how geworden ist bzw. welche Rolle und Funktion ihr noch zukommt, in der Forschung deutlich weniger Beachtung gefunden. Dass die Idee der alltagspraktischen Erfahrung aber keineswegs aus der Diskussion verschwindet, davon zeugt nicht nur Montaignes vieldiskutierter Essay „De l’expérience“ (III,13), in dem sich zudem die Schnittstellen zum medizinischen Diskurs sowie die Betonung der spezifisch eigenen Erfahrung manifestieren (Montaigne spricht von „l’expérience [...] que nous avons de nous mesme“).
Auffällig ist insbesondere, wie sehr gerade schreibende Frauen, vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert, regelmäßig auf die Kategorie der Erfahrung rekurrieren, sei es um ihre Argumente zu untermauern, ihre Expertise auf dem jeweiligen Gebiet zu demonstrieren oder aber überhaupt die Tatsache ihres Schreibens zu rechtfertigen. Die (eigene) Erfahrung gehört offenbar zu den legitimen Domänen weiblichen Wissens, auf die sich Frauen auch dann berufen können, wenn ihnen der Zugang zu Büchern und Bildung verwehrt ist. Gerade das strukturelle ‚Problem‘ des Erfahrungswissens – die Tatsache, dass es nicht ohne Weiteres vom Erfahrungssubjekt ablösbar, nicht ohne Verluste vermittelbar ist (Schaefer 2019) – scheint für die femmes de lettres eine Chance zu bieten, denn ihre Erfahrung kann ihnen niemand nehmen, sie ist ihr Eigen. Entsprechend stützt sich schon Christine de Pizan in ihrer Argumentation gegen die misogynen Positionen zeitgenössischer Autoren auf ihre eigene Erfahrung als Frau. In der aufklärerischen Pädagogik der Madame d’Épinay schließlich trifft der lebenspraktische expérience-Begriff erneut mit dem beobachtungsbasierten zusammen, z.B. wenn in den Conversations d’Émilie (1782) ein Teil der pädagogischen Lektionen für die Tochter im Lernen aus Alltagserfahrungen besteht, ein anderer hingegen aus von der Mutter für die Tochter arrangierten ‚Experimenten‘, etwa zum physikalischen Verhalten von Wasser.
Die Tagung ist interdisziplinär (literaturwissenschaftlich und wissensgeschichtlich) angelegt und untersucht die Rekurse auf Erfahrung und Erfahrungswissen in französischen Texten der Frühen Neuzeit in ihrer Vielfalt. Sie richtet den Blick gezielt auf die potenziell fortwirkenden Verflechtungen, Schnittstellen und Kreuzungspunkte der beiden genannten Begriffe von expérience.
Mögliche Fragen lauten: Inwiefern leben neben, aber auch in dem jüngeren Konzept empirischen Wissens Aspekte des traditionellen experientia-Begriffs fort? In welchen Texten, etwa im medizinischen Diskurs des 17. Jahrhunderts, zeichnet sich die Trennung der beiden Begriffe ab? Wie ist der Rekurs auf die Kategorie der Erfahrung jeweils für die Argumentation funktionalisiert? Inwiefern bildet gerade die écriture féminine ein Feld, in dem der Rekurs auf die lebenspraktische Erfahrung eine kontinuierlich wichtige Rolle spielt, und ab wann hält der jüngere, mit observation verbundene expérience-Begriff Einzug in das weibliche Schreiben? Welche Rolle spielt es für weibliche wie männliche Autoren, dass Erfahrung ein elusives, nicht ohne Weiteres diskursivierbares Wissen ist: Wo zeigen sich die Grenzen der Vermittelbarkeit von Erfahrung, wo werden sie (gezielt) überspielt? Genauer zu beleuchten ist auch das Verhältnis von Erfahrungs- und Bücherwissen, an dem sich deutlich das Paradox einer Theorie der Praxis (i.e. der praktischen Erfahrung) abzeichnet, die in ihrer eigenen Praxis dem Bücherwissen weit mehr verpflichtet ist, als sie nach außen zuzugeben bereit ist.
Programm
Donnerstag, 24.09.2020
ab 13.30 Uhr Registrierung
14.00–16.00 Uhr
Isabelle Fellner, Christina Schaefer (Freie Universität Berlin): „Zur Einführung: Facetten frühneuzeitlicher experientia-Diskurse“
Margarete Zimmermann (Berlin/Paris): „Gendered experience(s)“ im Denken der Christine de Pizan (entfällt)
Iris Roebling-Grau (Freie Universität Berlin): „Y en todo es gran cosa la experiencia“ – Elusives Wissen bei der mystischen Autorin Teresa de Ávila
16.30–18.00 Uhr
Dirk Brunke (Ruhr-Universität Bochum): Expérience als Leitbegriff der Selbstthematisierung bei Jean de Léry
Rogier Gerrits (Berlin/Hamburg): Erfahrungswissen und Wunder in französischen Mirakelerzählungen der Frühen Neuzeit
Freitag, 25.09.2020
9.00–10.30 Uhr
Daniel Fliege, Marie Guthmüller (Humboldt-Universität zu Berlin): La science de l’âme: une science expérimentale? Erfahrung und Seelenwissen in der (Auto-)Hagiographie des 17. Jahrhunderts
Isabelle Fellner (Freie Universität Berlin): „Quand la raison répugne à l’expérience“: Medizinisches Erfahrungswissen im Paris des 17. Jahrhunderts
11.00–12.30 Uhr
Moritz Rauchhaus (Humboldt-Universität zu Berlin): Über den Zusammenhang von erreur und expérience in Charles Sorels Science Universelle (1634–1668)
Stephanie Bung (Universität Duisburg-Essen): Galantes Schreiben unter Ludwig XIV. als handlungsorientiertes knowing how (entfällt)
14.30–16.00 Uhr
Melina Riegel (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Moralistische expérience zwischen Bücher- und Erfahrungswissen. Eine korpusbasierte Perspektive
Robert Krause (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Lese- und Lebenserfahrung. Rezeptionsgeschichtlich-komparatistische Betrachtungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert
16.30–18.00 Uhr
Christina Schaefer (Freie Universität Berlin): Erfahrung, Wissenschaft und pädagogisches Experiment: zum Rekurs auf die expérience in Les Conversations d’Émilie der Madame d’Épinay
Schlussdiskussion
Weitere Informationen
Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist eine Teilnahme nur mit vorheriger Anmeldung möglich.
Kontakt
Isabelle Fellner
Freie Universität Berlin
Institut für Romanische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin
isabelle.fellner@fu-berlin.de
Dr. Christina Schaefer
Freie Universität Berlin
Institut für Romanische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin
christina.schaefer@fu-berlin.de