Prof. Dr. Mathias Herweg, Karlsruher Institut für Technologie: „Aufzählen im Erzählen: Der Roman als 'genus colligens'“
Ein Vortrag der Veranstaltungsreihe "WissensFragen. Der SFB 980 im Gespräch mit ..." auf Einladung des mediävistischen Teilprojekts B02 "Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters" (Projektleitung: Prof. Dr. Jutta Eming)
Einer Reihe bes. spätmittelalterlicher und barocker Romane wurde in jüngerer Zeit eine Poetik des Enzyklopädisierens und des Sammelns bescheinigt; dazu zählen u.a. der 'Jüngere Titurel', 'Reinfried von Braunschweig', Wittenwilers 'Ring', Ulrichs und Hartliebs 'Alexander', 'Faust-' oder 'Wagnerbuch', in inkommensurabler Weise auch Fischarts 'Geschichtklitterung'. Schon jenseits der Epochengrenze liegen einige Monumentalromane des Barock, für die der Romantiker Eichendorff das Verdikt 'tollgewordene Realenzyklopädien' geprägt hat. Schon die Auswahl legt nahe, dass das 'Sammeln' hier nicht um seiner selbst willen geschieht, sondern einer spezifischen Logik folgt, die synchron und diachron, gattungs- und texttheoretisch zu beschreiben ist: Wie 'funktioniert' Sammeln in Erzähltexten? Welches Autorkonzept, welcher Geltungsanspruch steckt dahinter, wie geht das Publikum mit dem Dargebotenen um, das den Erzählfluss mehr oder minder lang unterbricht? Und vor allem: Warum ist gerade der Roman so offen für Sammlungen epistemisch-literarischer Bestände? Von genrepoetischer Seite her ist also zu fragen, welchem Konzept, welcher Logik und welchen Bedürfnissen solche Sammlungen folgen und wie sie sich zum Erzähl(t)en verhalten, von epistemischer, was mit gesammeltem Wissen geschieht, wenn es in die Dynamik des Erzählens gerät, nicht mehr nach Fachsystematik, sondern nach narrativen Strukturen wie einer Reiseerzählung ausgewählt wird.
Das Sammeln als Aspekt einer (weitergesteckten) enzyklopädischen 'Schreibweise' im Roman interessiert mich für den Berliner Anlass primär als generische (und erst sekundär auch epistemische) Praxis. Sie erstreckt sich nicht nur auf außerliterarisches Wissen, sondern auch auf intertextuelle und selbstreferenzielle Bezüge, auf das Verfügen über das Stil-, Motiv- und Erzählreservoir einer bereits ausdifferenzierten Gattungsgeschichte. In beidem scheint sie an bestimmte 'Sitze im Leben' und Publika geknüpft zu sein, in beidem aber auch auf zählebige Vorbehalte gegenüber der Gattung zu reagieren. Die skizzierten Aspekte sollen an Fallbeispielen erwogen, die Fallbeispiele wiederum in ihre weiteren genrepoetischen Bezüge eingebettet werden.
Zeit & Ort
29.11.2019 | 10:00 c.t.
Sitzungsraum der SFB-Villa, Schwendenerstraße 8, 14195 Berlin-Dahlem