Preposterous Utopias – Utopien vor ihrer Zeit
(16683)
Typ | Übung |
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Dozent/in | Dr. Tilo Renz |
Semester | Sommersemester 2018 |
Veranstaltungsumfang | 2 SWS |
Raum | JK 26/101 (Habelschwerdter Allee 45) |
Beginn | 19.04.2018 |
Zeit | Do 10:00–12:00 |
Kommentar
Den thematischen Fokus dieses Lektüre-Kurses bildet die Frage, was utopische Gemeinschaften im Mittelalter auszeichnet. Um dieser Frage nachzugehen, werden wir uns intensiv mit zwei Romanen des späten Mittelalters beschäftigen: mit dem Apollonius von Tyrland des Wiener Arztes Heinrich von Neustadt und mit dem anonym überlieferten Reinfrit von Braunschweig, der vermutlich im Bodenseeraum entstanden ist. Beide Texte werde an der Wende zum 14. Jahrhundert verfasst und erzählen von Erlebnissen des Protagonisten bzw. des Protagonistenpaars in der Fremde. Diese Erlebnisse umfassen sowohl Begegnungen mit sonderbaren Lebewesen als auch Besuche von Gemeinschaften, deren Lebensbedingungen, soziale Ordnung und Gebräuche den Reisenden nicht vertraut sind. Einige der Gemeinschaften, die hier beschrieben werden, kann man als spezifisch mittelalterliche Formen utopischen Denkens verstehen: Es herrscht dort zum Beispiel großer Reichtum, die Natur stellt vielfältige Nahrungsmittel zur Verfügung, die Bewohner verhalten sich tugendhaft und leben friedlich miteinander.
Um das Utopische dieser Texte genauer bestimmen zu können, werden wir den Blick über die zwei Romane hinaus weiten und uns mit Texten und Motiven beschäftigen, die von zentraler Bedeutung sind, wenn man verstehen will, was utopisches Denken grundsätzlich auszeichnet und welche Formen es im Mittelalter angenommen hat. Dazu gehört zum Beispiel der biblische Schöpfungsbericht über den Paradiesgarten, der für Vorstellungen von idealen Orten im Mittelalter eine bedeutende Referenz ist. Und dazu gehört nicht zuletzt die Schrift Utopia des Thomas Morus, die das Wort Utopie zum ersten Mal aufbringt und für die weitere Entwicklung des Konzepts zentral ist – Morus’ Utopia entsteht allerdings erst ca. 200 Jahre nach dem Reinfrit und nach Heinrichs Apollonius . Aus der Perspektive dieses grundlegenden Textes betrachtet, sind die idealen Gemeinschaften der Liebes- und Abenteuerromane keine Utopien im eigentlichen Sinne. Sie sind als Utopien ‚widersinnig‘ (engl. preposterous), denn sie entstehen ‚vor deren Zeit‘ (pre-posterous). Wir werden exemplarisch erarbeiten, inwiefern mittelalterliche ideale Gemeinschaften zum einen auf (früh-)neuzeitliche Vorstellungen von Utopien bezogen werden können und inwiefern sie zum anderen eigene utopische Entwürfe beinhalten.