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‘wunder’ in Serie. Verfahren der Akkumulation von Mirabilien

Workshop veranstaltet vom SFB-Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“, Jutta Eming und Tilo Renz, 14.–15.03.2024

27.06.2024

‚wunder‘ in Serie, Bodleian Library MS. Bodl. 264, fol. 21v

‚wunder‘ in Serie, Bodleian Library MS. Bodl. 264, fol. 21v

Bericht: Laura Ginzel

Für Wunder der Natur, sogenannte mirabilia, ist die Mehrzahl in epistemologischer Hinsicht spätestens seit dem Hochmittelalter konstitutiv: Um als Mirabilien gelten zu können, müssen die entsprechenden Phänomene erkennbar dieser Kategorie zugeordnet werden können. Der Plural ist also Voraussetzung für die Herausbildung des Wissens vom Wunderbaren, er stellt aber in ästhetischer Perspektive eine Herausforderung dar. Im frühen 13. Jahrhundert geht Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia auf die Darstellungspotenziale von Mirabilien ein. Er konstatiert, dass mit wunder-Erzählungen der Anspruch verbunden sein müsse, sie als neu erscheinen zu lassen. Mit dem Erneuerungsanspruch im Erzählen wird das Wunderbare als Spielfeld ästhetischer Innovationen markiert. Auch religiöse Wunder, so genannte miracula, die bereits historisch-zeitgenössisch als unmittelbar von Gott bewirkte Überschreitungen des gewohnten Laufs der Natur verstanden werden, werden – mit gewissen Abweichungen – immer wieder erzählt. Das lässt sich beispielsweise am legendarischen Erzählen beobachten. Angesichts dieser Korrespondenz dürfte es produktiv sein, Mirabilien und Mirakel gemeinsam auf ihre spezifische Serialität hin zu untersuchen.

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Beobachtungen widmete sich der von Jutta Eming und Tilo Renz (Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“) veranstaltete Workshop wunder in Serie. Verfahren der Akkumulation von Mirabilien“ Darstellungs- und Funktionsweisen der Reihenbildung von mirabilia und miracula. Fokussiert wurden Darstellungsverfahren, die auf Abweichung und Varianz in der Wiederholung abzielen, um ihre spezifische Ästhetik und sozialhistorische Funktionalisierung zu erfassen.

Die Vorträge des ersten Tages galten Wunderdarstellungen aus dem Bereich der religiösen Literatur sowie visuellen Repräsentationen von Wundern oder Reflexionen auf ihre visuelle Dimension. Die Kunsthistorikerin Livia Cárdenas (Berlin) zeigte, dass die Produktion von Büchern, die Heiltumsweisungen in textueller und visueller Form festhalten und memorierbar machen, sogenannter Heiltumsbücher, im späten 15. Jahrhundert zu starker Konkurrenz zwischen den Städten Nürnberg und Bamberg und ihren Reliquien (bzw. in Nürnberg auch der Reichskleinodien) führte. Seit dem ersten Nürnberger Heiltumsbuch von 1487 reagieren die Bücher beider Städte aufeinander und erweisen sich sowohl in der textuellen als auch in der visuellen Gestaltung voneinander abhängig. Zugleich wird die Varianz des Mediums in Text und Bild deutlich.

Nina Nowakowski (Mainz) untersuchte Strategien der Vermittlung von Heil, die an Erzählungen von den Wundertaten Marias, so genannten Marienmirakeln, durchgespielt werden. Am Beispiel des Magnet unserer lieben Frau (1493, Cgm 626) zeigte sie,dass diese Mirakelreihen eine strukturelle Neigung zu Akkumulation und Serialität aufweisen, die sich auch innerhalb der einzelnen Mirakel zeigt. Die Reihen lassen auch Variation zu, die, so Nowakowski, als Heilskasuistik zu verstehen ist. Mit dem Begriff zielte sie darauf ab, die Varianz der Wundererzählungen aus der pragmatischen Einbindung in eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Heilsbedürfnisse der Gläubigen zu erklären.

Falk Quenstedt (Greifswald) analysierte die serielle Darstellung von Schadenszauber-Verbrechen in Text und Bild am Beispiel des Flugblattes Trierer Hexentanzplatz und eines Traktats des Leipziger Protestanten Thomas Sigfrid zur Wirkmacht von Zauberei von 1593. Quenstedt arbeitete neben Parallelen besonders Unterschiede in der Serialitätsdarstellung von Traktat und dem Kupferstich des Flugblattes heraus. Während im Traktatstext medial bedingt Zauberhandlungen und ihre erstaunlichen Wirkungen lediglich aneinandergereiht werden, lässt das Flugblatt die gleichzeitige Darstellung der Vergehen zu.

Susanne Reichlin (München) fokussierte eine Serie von Marienmirakeln im Nürnberger Marienbuch (nach 1410), in der von Darstellungen Marias, insbesondere von Skulpturen, die Rede ist. Die Wundererzählungen der Reihe sind, so Reichlin, thematisch miteinander verknüpft, indem sie die eingeschränkte Wirkmacht der Marienpilder und ihre Anfälligkeit gegenüber unsachgemäßer Behandlung oder gar Beschädigung behandeln – beide Aspekte fasste Reichlin mit dem Begriff der Vulnerabilität der Mariendarstellungen. Weiter argumentierte sie für einen Ordnungswillen des Kompilators der Mirakel-Serien, indem sie die pilder-Reihe mit einer anderen Reihe verglich und hier statt der auf ein Problem (Vulnerabilität) bezogenen eine kettenartige Verknüpfung der einzelnen Erzählungen beobachten konnte.

Der zweite Tag startete mit Daniela Fuhrmanns (Zürich) Betrachtungen zu Wunderserien in den sogenannten Schwesternbüchern (14./15. Jh.) von Engelthal, Katharinental und Töss. Die formale Besonderheit der Perspektive einer Mitschwester auf das religiöse Erleben macht unterschiedliche Darstellungsweisen möglich. Dabei führen die Beobachterinnen eine aktive Teilhabe am Wunder vor, zu der unter anderem gehört, dass die beobachtenden Schwestern ihre Mitschwester nach den religiösen Erfahrungen befragen. Angesichts der Anschlusskommunikation, die die Erfahrung von Wundern hier nach sich zieht, wies Fuhrmann auf Parallelen bei Darstellungen von Mirabilien, beispielsweise im Herzog Ernst, hin.

Die folgenden Beiträge zu Mirabilien eröffnete Tilo Renz (Berlin) mit einem Vortrag zum Wunderbaren in der Candacis-Episode eines hoch- und eines spätmittelalterlichen deutschsprachigen Alexanderromans. Renz ging von der Beobachtung aus, dass Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia das ganz grundlegende Verfahren der Vertauschung von Elementen der Darstellung andeutet, um mit dessen Hilfe Mirabilien als neu präsentieren zu können. Renz arbeitete Verfahren der Rekombination in der Candacis-Episode des Straßburger Alexander (um 1200) und des Alexander Meister Wichwolts (kurz nach 1400) heraus. Er machte deutlich, dass in letzterem die Anzahl staunenswerter Objekte und die Ausführlichkeit ihrer descriptiones zurücktreten, wohingegen der Aspekt der Vertauschung noch stärker betont wird als im Straßburger Alexander. Die implizite Ästhetik der Alexanderromane stützt die Bedeutung von Kombination und Rekombination für die Darstellung des Wunderbaren, die Gervasius’ theoretische Überlegungen andeuten.

Justin Vollmann (Jena) stellte anschließend Überlegungen zur Serialität von Helden vor und bezog sich dabei auf heroische, höfische und schwankhafte Gattungszusammenhänge. Da laut Vollmann Erzählungen dem Wunderbaren nicht gerecht werden können, weil seine Exzeptionalität auf syntagmatischer Ebene kaum eingeholt werden kann, muss für die Darstellung des Wunderbaren auf das Paradigma, mithin auf Serialität zurückgegriffen werden. Mit einer Analyse der Episode von der Riesin Rome im Wolfdietrich D erläuterte Vollmann seine zentrale These und zeigte überdies, wie hier die Bedeutung der Wahrnehmung für die Konstitution des Wunderbaren sichtbar gemacht wird.

Fabian David Scheidel (Köln) arbeitete ein mittelalterliches Bewusstsein für ein ‚Mittleres Alter‘ heraus und verstand die Artusliteratur des späten 12. Jahrhunderts als ‚Retrofiktion‘. Scheidel argumentierte, dass die gemeinsame, ineinandergreifende Darstellung der Artusromane die Artuszeit zu einer abgeschlossenen Zeit macht, die wiederum den Raum für das Wunderbare öffnet. Elemente des Wunderbaren werden auf unterschiedliche Weise für die ‚Retrofiktion‘ funktionalisiert: Der beklagenswerte Verlust der Mirabilien steht ihrer zunehmend kunstfertigen Ausgestaltung gegenüber.

Katharina Philipowski (Potsdam) präsentierte Überlegungen zur Darstellung des Heiligen Grals in seiner breiten Erzähltradition. Philipowski zeigte, dass in der Tradition sukzessive ein Wissenshorizont vom Gral etabliert wird. Damit kommt dem Gral der Status eines singulären mirabilen Gegenstands zu, der gewisse Nähe zu einer Figur aufweist und fast so etwas wie eine Biografie besitzt. Dieser Status führt, so Philipowski weiter, nicht zu zunehmender Fülle der Darstellung oder zu einem Erzählgestus der Überbietung. Vielmehr werde ein Erzählprozess der Arkanisierung sichtbar, in dem Informationen nachgereicht, vorausgesetzt oder ganz ausgelassen würden.

In der Abschlussdiskussion wurde die Vielfalt serieller Darstellungsweisen von Wunder und Wunderbarem betont, die in den Vorträgen zutage getreten sind. Trotz hoher epistemischer Anforderungen an Wiedererkennbarkeit und damit auch an die Erwartbarkeit des Wunderbaren konnten die Vorträge Episodenreihen aufweisen, die sowohl über paradigmatische Varianz verfügen als auch über solche, die das Syntagma und andere Merkmale der narrativen Struktur betreffen (etwa die Erzählperspektive). Auch bei den miracula, für die die Notwendigkeit, die pragmatisch-funktionale Einbindung zu berücksichtigen, zum Teil stark herausgestrichen wurde, zeigten sich vielfältige und komplexe, in anderen Darstellungen aber auch nur ‚flach‘ skalierte Varianzen. Aus der Gegenüberstellung von mirabilia- und miracula-Serien ergibt sich damit unter anderem die weiterführende Frage, wie ästhetische und funktionale Aspekte im Zuge von Analysen des Wunders und des Wunderbaren produktiv miteinander verknüpft werden können.

 

Ein ausführlicher Tagungsbericht wurde am 16.6.2024 bei H/Soz/Kult online veröffentlicht.