On the Threshhold of Islam. Documents in the Pahlavi Cursive Script. Fourth International Summer School on Pahlavi Papyrology
Summer School des SFB-Teilprojekts C03 „Interaktion und Wandel orientalischer Rechtssysteme“ in Kooperation mit dem Akademienvorhaben Turfanforschung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften u. dem Ägyptischen Museum, 24.–28.09.2012
08.10.2014
Bericht von Iris Colditz
Gegenstand der nach Veranstaltungen in Wien (2009 Österreichischen Nationalbibliothek), Rom (2010 Sapienza-Universität) und Paris (2011 École pratique des hautes études) abgehaltenen Summer School waren Forschungsprobleme der mitteliranischen Papyrologie und Manuskriptologie. Berlin ist ein Zentrum dieses Forschungsgebietes, da sich mehrere bedeutende Sammlungen mitteliranischer Originaldokumente, die verschiedenste Wissensbestände (Religion, Wirtschaft, Recht, Philologie) repräsentieren, sowie damit befaßte Forschungsinstitutionen hier konzentrieren: die Pahlavi-Dokumente am Institut für Iranistik der FU, die Turfansammlung an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und die mittelpersischen Papyri am Ägyptischen Museum (jetzt Neues Museum). Dieser Standortvorteil wurde für die Gestaltung einer Summer School genutzt, die fortgeschrittene Studierende und Fachspezialisten mit der Forschungsarbeit in Berlin bekannt machen sollte. Die Summer School verknüpfte öffentliche Vorträge aus der noch unpublizierten Forschung mit intensiven Workshops, in denen eine begrenzte Anzahl von Studierenden, Doktoranden und Postdoktoranden (aus Rom, Paris, Salamanca, London, Tübingen, Göttingen, Berlin und Iran) in die Probleme der Lesung der schwierigen Texte eingeführt wurden.
Insbesondere bei den Pahlavi-Dokumenten in Kursivschrift, die im Zusammenhang mit der großen Sammlung des „Pahlavi Archive“ der Berkeley Universität stehen und im Rahmen von DFG-Projekten am Institut für Iranistik erstmalig entziffert werden, handelt es sich um einzigartige Originaldokumente aus dem 7.-8. Jh., die vor allem juristisches und ökonomisches Wissen enthalten. Da nur wenige Zeugnisse aus dieser Zeit erhalten geblieben sind, sind diese für die Erforschung der Wirtschafts-, Rechts- und Kulturgeschichte, des Geschäfts- und Alltagslebens sowie der Sprach- und Schriftentwicklung im Iran und im Vorderen und Mittleren Orient von außerordentlicher Bedeutung. Die Existenz dieser Dokumente zeugt zum einen vom Fortleben zoroastrischen Rechts auch nach der islamischen Eroberung des sasanidischen Iran innerhalb zoroastrischer Gemeinden, zum anderen können anhand dieser Quellen Interaktions- und Transferprozesse zwischen dem zoroastrischen und dem sich noch in seiner frühen Entwicklungsphase befindlichen islamischen Recht sowie Fragen einer Rechtsrezeption in den als „entwicklungsresistent“ geltenden religiösen Kontexten untersucht werden. Die Entzifferung der Dokumente bringt zudem zahlreiche wichtige Einzelheiten zu Tage, die nicht nur für die Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Irans, sondern darüber hinaus für die allgemeine Wirtschaftsgeschichte von Bedeutung sind (z.B. die Herkunft unseres Ausdrucks „Scheck“ aus dem in diesen Quellen gebrauchten Terminus čak „Vermerk, Zahlungsanweisung, Quittung“). Weitere Informationen zu diesem Forschungsschwerpunkt s. unter http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/iranistik/forschung/forschungsschwerpunkte/pahlavi/index.html.
Da es weltweit nur wenige Spezialisten gibt, die die schwierige Pahlavi-Kursivschrift entziffern können, war die Vermittlung dringend benötigter Fachkompetenz und die Gewinnung wissenschaftlichen Nachwuchses für dieses Forschungsgebiet ein wichtiges Anliegen der Summer School. Themen der Vorträge, die in die größeren Kontexte der Iranistik und der Studien zu den spätantiken und frühislamischen Kulturen in Iran, Ägypten und den Nachbarregionen gestellt waren, waren u.a. Probleme der Manuskriptanalyse, der Paläographie und Kalligraphie, der Materialität der Handschriften und der Textedition. Im Rahmen der Workshops konnten die Teilnehmer Einblick nehmen in Originaldokumente in den o.g. Sammlungen und diese unter Anleitung lesen. Dadurch wurde ihnen nicht nur eine intensive Beschäftigung mit den zahlreichen Leseschwierigkeiten dieser Texte geboten, sondern darüber hinaus Kenntnis der individuellen Beschaffenheit der Dokumente sowie der Materialien, die verwendet wurden, vermittelt.
Maria Macuch (FU Berlin) gab einen Überblick über den Forschungsstand sowie über die am Institut für Iranistik verankerte Forschungsarbeit. Dabei verwies sie besonders auf mehrere am Institut durchgeführte DFG-Projekte, zu deren Ergebnissen sowohl Editionen von Dokumenten in der Pahlavi-Kursive aus Sammlungen in Berlin, Wien und Berkeley als auch die Rekonstruktion einer detaillierten Entwicklungsgeschichte der Pahlavi-Schrift zählen. Letztere hat große Bedeutung für die Lösung zahlreicher Lese- und Interpretationsprobleme dieser Texte sowie darüber hinaus für die Datierung der Erfindung der Avesta-Schrift in sasanidischer Zeit, die es den Zoroastriern erstmals ermöglichte, ihre religiösen Texte der mündlichen Überlieferung adäquat schriftlich zu fixieren. Dies liefert neue Erkenntnisse für die iranische Religionsgeschichte und Philologie.
Das „Pahlavi-Archive“
Dieter Weber (DFG-Projekt/FU Berlin) stellte zunächst diese hinsichtlich Inhalt, Duktus und Schreibmaterial heterogene Sammlung von ca. 300 Dokumenten in der Pahlavi-Kursive vor („New Arguments for Dating the Documents from the Pahlavi Archive“), die – zusammen mit den 30 Dokumenten der Berliner Sammlung sowie weiteren in Privatsammlungen in Iran und Amerika – ursprünglich zu ein und demselben Archiv aus der Gegend des heutigen Qom in Nordwest-Iran gehören. Die Texte reflektieren die Interaktion zwischen zoroastrischen Repräsentanten und durch Landkauf ansässig werdenden arabischen Siedlern, die arabischen Quellen zufolge zu Konflikten und schließlich zur Verdrängung der Zoroastrier aus diesem Gebiet führte. Auch werden in den Pahlavi-Dokumenten bereits Termini aus islamischem Kontext verwendet, wie die Einleitungsformel „im Namen Gottes“ (pad nām ī yazd) gegenüber der zoroastrischen Formel „im Namen der Götter“ (pad nām ī yazdān) oder das Wort für „Moschee“ (msgtʾn). Die Dokumente können demnach Ende 7./Anfang 8. Jh. datiert werden.
Desweiteren stellte Dieter Weber seine Forschungen zu einer genaueren geographischen Einordnung dieser Dokumente vor („Villages and Estates in the Documents from the Pahlavi-Archive: The Geographical Background“). Neben Qom (kwm) werden darin Städte und Dörfer genannt, deren Bezeichnungen nur selten mit heutigen Ortsnamen übereinstimmen. Aufgrund der Berechnung von Entfernungen aus den Angaben von Tagesrationen für Reiter in Wirtschaftsdokumenten und Briefen und parallelen Erwähnungen in zeitgenössischen arabischen Quellen konnte Weber eine Reihe von Orten identifizieren oder ihre Lage eingrenzen. Dies führte auch zu neuen Lesungen der Pahlavi-Dokumente.
Schließlich behandelte Dieter Weber Besonderheiten diverser Schriftarten auf sasanidischen Münzen vom Anfang des 7. Jh. aus verschiedenen Sammlungen („Graffiti and Dipinti on Sasanian Coins“). Dabei lassen sich paläographische Parallelen zu den Pahlavi-Dokumenten wie auch zu der religiösen Pahlavi-Literatur ziehen. Dies gilt auch für die auf den Münzen verwendeten Termini aus religiösem wie auch ökonomisch-juristischem Kontext. Orts- und Personennamen auf den Münzen bereichern darüber hinaus zugleich die onomastische Forschung. Die Münzen und ihre Inschriften sollen in naher Zukunft publiziert werden und somit der Forschung zur Verfügung stehen.
Philippe Gignoux (Ecole pratique des hautes études, Paris) informierte über eine neu bekannt gewordene, noch vollkommen unbearbeitete Sammlung von juristischen Dokumenten in der Pahlavi-Kursive aus Tabarestan (Nord-Iran) aus dem 8. Jh., die neue Perspektiven für die Erforschung der Rechtsgeschichte Irans eröffnet. Im einzelnen stellte er darin vorkommende Personennamen und linguistische Besonderheiten vor („On Personal Names and Several Linguistic Peculiarities from a New Private Collection of Pahlavi Parchments“). So verweisen z.B. ähnliche Namensglieder auf familiäre Beziehungen. Auch hier zeigen sich zahlreiche Schwierigkeiten bei der Lesung und Deutung der Namen.
Avesta- und Pahlavi-Texte
Götz König (FU Berlin) widmete sich der in der Forschung noch unterrepräsentierten Manuskriptanalyse im Zusammenhang mit der Edition von Pahlavi-Texten („Remarks on the Editing of Pahlavi Texts“). Er wandte sich dabei gegen die gängige These, daß das Avesta und seine Pahlavi-Übersetzung nur den Schlußpunkt einer jahrhundertealten oralen Entwicklung und die Verschriftlichung nur das Ergebnis einer politisch-sozialen Krise in frühislamischer Zeit darstellen. Statt dessen spiegeln insbesondere die in Kodexform überlieferten Texte einen längeren Prozeß von Schriftlichkeit wider: identifizierbare Autoren, Schreiber, Kompilatoren oder Editoren, festgelegte(r) Inhalt und Struktur, intertextuelle Bezüge durch Kommentare und Zitate aus anderen Werken, reiche Handschriftenüberlieferung. Sie können somit nicht ausschließlich mit Kriterien der Oralität untersucht werden. Die vergleichende Untersuchung vollständiger Kodizes ist daher unabdingbar, während bisher meist nur einzelne Texte daraus ediert wurden. Dadurch kann der alte Kern solcher Kodizes identifiziert werden, da die Abfolge der einzelnen Texte darin z.T. abweicht oder auch Kodizes aus verschiedenen Traditionen rekonstruiert wurden. Die Erkenntnisse aus der Manuskriptanalyse verweisen zudem auf die wichtige Rolle des zoroastrischen Klerus als Teil der frühislamischen Gesellschaft (z.B. bei Hof; Kopie des Dēnkard in Baghdad), auf deren Kenntnisse als Gelehrte das junge Khalifat angewiesen war.
Miguel Ángel Andrés Toledo (DFG-Projekt, Salamanca/FU Berlin) stellte erste Ergebnisse des Projektes Avestan Digital Archive (Salamanca) zur Paläographie des Avesta vor („Graphic Particularities in Various Avestan Manuscripts“), ein Desideratum in der bisherigen Forschung. Kalligraphische und paläographische Besonderheiten von Handschriften (Sonderformen, Ligaturen und Verwechslung von Buchstaben, Abweichungen alphabetischer Abfolgen) lassen Rückschlüsse auf den Einfluß der indischen Grammatik wie auch vielleicht der Pahlavi-Kursivschrift zu. Es zeigt sich, daß Schreibfehler nur durch eine schriftliche Überlieferung möglich waren und die Entwicklung der Avesta-Schrift bis Ende des 7. Jh. abgeschlossen gewesen sein muß. Darüber hinaus präsentierte Andrés Toledo illuminatierte Avesta-Handschriften.
Turfanforschung
Desmond Durkin-Meisterernst (Turfanforschung, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin) gab einen Überblick über die ca. 5.000 iranischen Texte aus dem 8.-11. Jh. in der Berliner Turfansammlung, die Anfang des 20. Jh. durch Expeditionen des damaligen Berliner Museums für Völkerkunde in der zentralasiatischen Turfanoase (Chinesisch-Turkestan, heute Xinjiang) an der Seidenstraße gefunden wurden („The Iranian Part of the Berlin Turfan Collection“). Durch die Vielzahl an Sprachen (Mittelpersisch, Parthisch, Soghdisch, Baktrisch, Sakisch, Neupersisch), Schriften (manichäisch, soghdisch, Pahlavi, nestorianisch, arabisch, Brāhmī, hephthalitisch, alttürkische Runenschrift) und Formaten (Kodizes, Buchrollen, Pustaka), in denen die Texte vorliegen, und die verschiedenen religiösen Hintergründe (Manichäismus, Buddhismus, Christentum) ist ihre Erforschung ein unschätzbarer wissenschaftlicher Gewinn für die vergleichende Religions-, Literatur-, Sprach- und Religionswissenschaft. Im Workshop stellte Desmond Durkin-Meisterernst exemplarisch eine mittelpersische Übersetzung des christlichen Buches der Psalmen in Pahlavi-Schrift vor („The Pahlavi Psalter. Presentation and Reading“), ein seltenes Zeugnis für den Übergang einer nestorianischen christlichen Gemeinde im Sasanidenreich vom Syrischen zum Mittelpersischen.
Christiane Reck (Katalogisierung Orientalischer Handschriften in Deutschland, Göttingen/Berlin) berichtete über das aktuelle Katalogisierungsprojekt mitteliranischer Fragmente in soghdischer Schrift („Catalogues and Editions of Middle Iranian Manichaean Turfan Fragments“). Dieses wird drei Bände umfassen: I. Fragmente manichäischen Inhalts; II. Fragmente buddhistischen Inhalts; III. Fragmente christlichen Inhalts, Dokumente, Briefe, magische, medizinische und pharmakologische und sonstige Fragmente. Als Ergebnis dieser Arbeit konnten bereits Sprache und Inhalt zahlreicher Texte neu bestimmt werden, z.B. als Fragmente aus Schriften des Religionsstifters Mani in phonetischer Transkription oder soghdischer Übersetzung. Durch eine genaue Beschreibung konnten Fragmente bestimmten Handschriften zugeordnet oder mit anderen Fragmenten (auch aus anderer Sammlungen von Turfantexten) zusammengesetzt werden. Im Workshop präsentierte Christiane Reck die in der Turfansammlung bewahrten Reste des Šābuhragān, eines mittelpersisch verfaßten Buches Manis über die manichäische Lehre, das er dem sasanidischen König Šābuhr I. widmete („Shabuhragan. Presentation and Reading“). Das religionshistorisch wichtige Werk galt lange als verschollen und wird auch in arabischen Quellen des 9./10. Jh. beschrieben.
Mittelpersische Papyri
Verena Lepper (Ägyptisches Museum, Berlin) führte in die Papyrussammlung des Ägyptischen Museums ein („Guided tour through the Papyrussammlung of the Ägyptisches Museum“). Diese umfaßt ca. 60.000 Papyri in zehn Sprachen bzw. Schriften. Nur ein kleiner Teil davon ist bereits ediert, u.a. mittelpersische Texte in Pahlavi-Schrift von Dieter Weber. Zudem umfaßt der Bestand ca. 40.000 archäologische Objekte.
Myriam Krutzsch (Ägyptisches Museum, Berlin) gab einen Einblick in die restauratorische Arbeit an den Pahlavi-Dokumenten („Pahlavi Texts in Restoration“). Dabei stand zum einen die Materialität der Texte (Leder, Textil, Knotungen, Bullae) im Fokus. Ein weiterer Schwerpunkt war die vielfältige Falttechnik, die u.a. Aufschluß geben kann über den Inhalt der Texte. Desweiteren stellte Myriam Krutzsch einige der interessantesten Stücke vor, wie einen Brief aus spätsasanidischer Zeit und einen Zaubertext. Im sich anschließenden Workshop im Neuen Museum wurden unter Anleitung von Dieter Weber und Philippe Gignoux Papyri aus der Sammlung gelesen.
Die in der Fourth International Summer School on Pahlavi Papyrology gehaltenen Beiträge repräsentierten die ganze Breite des Forschungsgebietes der mittelpersischen Papyrologie. Die vorgestellten Textsammlungen datieren in das 7.-11. Jh., eine Periode großer politischer, religiöser und kultureller Umwälzungen. Die graphische, linguistische und religiöse Vielfalt der Texte und die nachweisbaren Transferprozesse wie der Wechsel von Sprache und Schrift verweisen auch auf Prozesse des Wissenswandels. Dennoch bezeugen die Dokumente in Pahlavi-Kursive ein Fortleben sasanidischer Wissenskultur auch nach der Islamisierung des Iran und sind als Originaldokumente juristischen und ökonomischen Wissens für das SFB-Teilprojekt C03 aufgrund ihrer Entstehung in der im Projekt anvisierten Übergangsperiode von der zoroastrischen zur islamischen Kultur von großer Bedeutung. Ihre Erforschung läßt weiterhin wichtige Erkenntnisse für die Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Irans und der Nachbarregionen erwarten. Dies gilt in besonderem Maße für die neuen juristischen Dokumente aus Tabarestan, die nach ihrer Entzifferung im Rahmen der Projektarbeit ausgewertet werden sollen. Im Rahmen der Summer School konnten auch gezielt Nachwuchswissenschaftler rekrutiert werden, indem die Teilnehmer die gewonnenen Kenntnisse durch eine Erweiterung der Quellenbasis in ihre wissenschaftliche Arbeit integrieren können. Mehrere Teilnehmer arbeiten bereits an Dissertationen zu diesem Forschungsgebiet oder erwägen dies zu tun.