Collecting Recipes. Byzantine and Jewish Pharmacology in Dialogue
Lennart Lehmhaus und Matteo Martelli (Hg.) – 2017
Das Buch „Collecting recipes – Byzantine and Jewish Pharmacology in Dialogue“ spannt den Bogen von der Medizin im alten Mesopotamien bis in die spätbyzantinische Zeit und legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf diachrone und transkulturelle Transferprozesse im Bereich des Wissens über Heilpflanzen, Medikamente, und Therapien. Denn gerade solches Know-how, oft in und wegen der spezifischen Form von kurzen Instruktionen zur Therapie oder als Rezept, scheint sich für den Austausch angeboten zu haben, der verschiedene Perioden und Kulturräume miteinander verknüpft. So zeichnet die längere Einleitung mit umfassender Bibliographie die Entwicklungsprozesse antiker Pharmakologie oder Pharmazeutik beginnend mit der altägyptischen Medizin nach. Bereits dort wie auch im alten Babylonien finde sich komplette Texte oder Sammlungen, die exklusive Informationen über verschiedene Heilmittel, ihre Dosierung und Anwendungen enthalten. Markham J. Geller weist in seinem Überblick zum status quaestionis auf die noch unbefriedigende Aufarbeitung und Edition der entsprechenden Quellentexte hin. Einen ersten Schritt für das Werk Uruanna, unternimmt Franziska Desch, die in ihrem Beitrag zeigt, dass die sogenannte Dreckapotheke (v.a. Blut, Exkremente oder Teile von menschlichen oder tierischen Körpern) keine minderwertige Heilkunst darstellt, sondern oft jene Bezeichnungen als Decknamen für bestimmte (pflanzliche) Elemente eines kohärenten pharmazeutischen Systems funktionierten. Viele dieser älteren Elemente finden sich ebenfalls in der klassischen griechischen Medizin des Hippokratischen Corpus und späterer Autoren wieder, auch wenn diese nur selten die Herkunft dieses Wissens aus Ägypten und Mesopotamien kenntlich machen. Doch die Entwicklung hin zu einer Pharmazeutik mit hochkomplexen Zusammensetzungen basierte sowohl auf der langen Tradition solcher Rezepte jener älterer Kulturen sowie auf dem Zugang zu lokalen und importierten Substanzen innerhalb des riesigen hellenistischen und später römischen Imperiums. Zudem war jenseits der exklusiven Elite medizinischer Autoren eine größere Gruppe von Experten (Drogisten, Händler, Apotheker, heilkundige Frauen und Männer, Heilpflanzengärtner etc.) in die pharmazeutische Theorie und Praxis eingebunden. Oft waren es jedoch die gelehrten Mediziner oder Autoren wie Galen, Scribonius Largus, Dioscorides oder Celsus, die imposante Mengen an Rezepten und Rezeptlisten sammelten. Trotz einer gewissen Präferenz für Systematisierung und Theoriebildung findet sich selbst bei Galen, wie Caroline Petit zeigt, noch eine große Anzahl von effektiven Heilmitteln oder Substanzen, die als „magisch“ oder Dreckapotheke eigentlich dem oft vorausgesetzten rationalen Charakter griechisch-römischer Medizin entgegenstanden. Der in der früheren Forschung oft überbetonten Dominanz galenischer Medizin in der Spätantike und in Byzanz wird in mehreren Beiträgen die intertextuelle Kreativität späterer Autoren und Kompilatoren im Umgang mit ihren Quellen (Eric Gowling und Christine Salazar zu Aetius) entgegengesetzt. Die Diskussionen zu gynäkologischer Pharmazeutik (Laurence Totelin) sowie zu toxikologischem (Gabrielle Lherminier) und kosmetischem (Serena Buzzi/ Irene Cala) Wissen machen deutlich, dass jene Texte (Pseudo-Galen, Oribasius, Aetius, Paulos von Aegina) auf ein sehr viel breiteres Register medizinischer Schulen zurückgreifen und die oft strikten Definitionen und Kategorisierungen Galens erweitern und aufweichen. Das Phänomen der Verbindung pharmazeutischen Wissens mit älteren Autoritäten (ägyptische/östliche Weise, Könige oder Heilige) wird von Matteo Martelli anhand von Rezeptsammlungen des Propheten Esra beleuchtet, die wie auch alchemische und astrologische Texte mit biblischer Autorenzuschreibung möglicherweise einen jüdischen Hintergrund aufweisen. Originär jüdische Beschäftigung mit Heilmitteln und Rezepten rückt in zwei weiteren Beiträgen zu talmudisch-rabbinischen Traditionen in den Fokus. Aaron Amit illustriert in seiner detaillierten Studie zu zum kos shel iqarin die Problematik im Umgang mit diversen Handschriftenvarianten und Druckrezensionen, die dazu beitrugen, dass für jenen Trank das einseitige Verständnis als Sterilitätsdroge statt der allgemeinen Bedeutung („Wurzeltrank“) bis in die heutige Forschung transferiert wurde. Die Überblicksdiskussion bei Lennart Lehmhaus beleuchtet wiederum die unterschiedliche kontextuelle Rahmung pharmazeutischen Wissens mit starken Bezügen zu diversen antiken Medizintraditionen (ägyptisch, babylonisch, griechisch-römisch) im religiös-ethischen Diskurs sowie die Verschmelzung der Rezeptform mit anderen Genres (Anekdote/Präzedenzfall etc.) in talmudischen Texten. Die longue durée des pharmakologischen Wissenstransfers zeigt sich im Aufsatz von Siam Bhayro, der Überlieferungsstrategien in mehrsprachigen Listen nachgeht. Wie in anderen solcher Rezept- oder Heilmittellisten beinhaltet das hier bearbeitet Fragment Namen der Substanzen in verschiedenen Sprachen (Aramäisch, Transliteration des Griechischen, Irano-Persisch) sowie Informationen zu Eigenschaften, Anwendung und Aussehen, die mögliche Parallelen in Galen und anderen griechischen Texten haben. Die Studie von Anna Maria Ieraci Bio zu Nicolas Myrepsos’ Dynameron macht wiederum deutlich, wie die spätbyzantinische Pharmakologie sich aus verschiedenen kulturellen Quellen speiste (Griechisch, Latein, Syrisch, Arabisch), was jedoch auch zahlreihe theoretische (Übersetzung, Systematik) und praktische (Zugang zu bestimmten Heilmitteln; Wissen über Maße) Herausforderungen mit sich brachte. Der Band vereint Beiträge, die verschiedene Transfers medizinischer Episteme in und zwischen Kulturen, Sprachen, religiösen Gruppierungen und über soziale und politische hinweg in den Blick nehmen. Pharmakologie und pharmazeutisches Wissen boten sich für solche Übertragungs-, Austausch- und Adaptionsprozesse an, da sie ein Gebiet von hoher praktischer Relevanz für breite Bevölkerungskreise darstellten und für viele leichter zugänglich waren als etwa die stärker theoretisch fokussierten Bereiche wie Physiologie, Pathologie oder Anatomie. Zudem waren auf diesem Gebiet, wie bereits erwähnt, viele Akteure tätig, so dass ein ständiger Austausch und mitunter sogar Abhängigkeitsverhältnisse zwischen gelehrten Medizinern, anderen ExpertInnen und nicht-SpezialistInnen oft die Regel waren. Der Transfer wurde zudem durch die modulare und ubiquitäre Form des Rezepts oder der therapeutischen Anweisung erleichtert, die als textuelle Reproduktion materieller Praktiken verstanden werden kann. Als solch ein „epistemisches Genre“ mit einer stabilen Grundstruktur, das jedoch offen für Modifikationen, Ergänzungen und Kürzungen war, konnten Rezepte in verschiedene Kontexten (theoretische Traktate, Rezeptsammlungen, enzyklopädische Texte etc.) und Perioden je nach Bedürfnissen der AutorInnen, RezipientInnen und BenutzerInnen eingepasst werden. Somit wird deutlich, dass diese oft als einfach belächelte Textform sowie das Phänomen des Sammelns und Kompilierens wichtige kognitive Praktiken darstellten, durch die „Episteme in Bewegung“ gebracht wurde.
With a clear comparative approach, this volume brings together for the first time contributions that cover different periods of the history of ancient pharmacology, from Greek, Byzantine, and Syriac medicine to the Rabbinic-Talmudic medical discourses. This collection opens up new synchronic and diachronic perspectives in the study of the ancient traditions of recipe-books and medical collections. Besides the highly influential Galenic tradition, the contributions will focus on less studied Byzantine and Syriac sources as well as on the Talmudic tradition, which has never been systematically investigated in relation to medicine. This inquiry will highlight the overwhelming mass of information about drugs and remedies, which accumulated over the centuries and was disseminated in a variety of texts belonging to distinct cultural milieus. Through a close analysis of some relevant case studies, this volume will trace some paths of this transmission and transformation of pharmacological knowledge across cultural and linguistic boundaries, by pointing to the variety of disciplines and areas of expertise involved in the process.